Grausam, was gerade wieder in Afghanistan passiert. Ich muss an die junge Frau denken, der ich vor 30 Jahren bei ihrer Diplomarbeit geholfen habe. Jung, schön – unverhüllt, was damals auch in Afghanistan noch möglich war. Sie ging zurück in ihr Land, zuversichtlich in die Zukunft schauend. Nur wenig später war wieder alles anders. Durch die Zeitungen ging die Nachricht, dass einer jungen Frau in Kabul auf offener Straße die Beine abgehackt wurden. Der Rock war zu kurz. Jetzt nehmen die Taliban die Stadt wieder ein. „Meine“ Studentin, ich erinnere mich leider nicht an ihren Namen, was ist aus ihr und ihren Kommilitonen geworden. Sie könnte Mutter und inzwischen auch Großmutter sein. Bangt sie jetzt, voller Angst um ihre Familie, die Kinder, die Enkel, um die nackte Existenz? Wie hat sie wohl als moderne junge Frau damals den Wandel in ihrem Land überstanden – überlebt? Ich versuche, es mir vorzustellen. Ich wage nicht zu Ende zu denken…
Krieg ist keine Naturgewalt. Trotzdem, sind wir vernunftbegabten Menschen nicht in der Lage, das gegenseitige Töten einzustellen. Gemordet wird für das Vaterland, für den Glauben, aus Lust – auch das. Das Morden hört weltweit nicht auf. Krieg ist Mord, nichts anderes.
Ich sehe mich noch im Studentenwohnheim. Vielleicht zehn junge Menschen aus Afghanistan. Eine Tafel voller exotischer Speisen. Lärm, Gelächter, Übermut. Ich bin eingeladen, mit ihnen den Abschluß zu feiern…
Die Bilder erzeugen eine Gänsehaut.
Wie jüngst auch der Besuch des Leipziger Völkerschlachtdenkmals mit der achtjährigen Enkeltochter. Früher war es fast ein Glaubensbekenntnis, ob man den grauen Koloss mochte oder nicht. Die Geschichte dahinter war bekannt, aber weit weg. Das Denkmal einfach Alltag, auch heute fühlt sich mancher abgestoßen. Die Fragen von L., warum da ein Krieg war und weshalb, die haben mich in diesen Tagen ziemlich aufgewühlt. Einfach nicht fassbar: Um die 500000 Menschen starben damals 1813 auf den Schlachtfeldern vor den Toren Leipzigs. Freiwillig für die Nation in den Krieg gezogen, unfreiwillig aus ihrem Alltag herausgerissen, die meisten. Das Elend zog in die ganze Region ein.
1813, die bis dahin größte Feldschlacht der Geschichte.
1913, genau 100 Jahre später, wird das Denkmal eingeweiht. Ein Jahr später beginnt der 1. Weltkrieg, das Massensterben erreicht die nächstgrößere Dimension. Auch das hat nicht gereicht, um den 2. Weltkrieg und ein noch größeres Morden zu verhindern. Heute passiert das Grauen für uns nicht so hautnah. Ich bin so froh darüber. Und trotzdem bedrängt das Grauen da draußen in der anderen Welt mich. Ohnmacht.
Ich frage mich: Wozu ist so ein Denkmal gut?
Die meisten um uns herum bestaunten an diesem milden Sommertag die Architektur. Touristen vor allem, die in Paris den Eifelturm erklimmen und in Berlin am Brandenburger Tor Selfies machen. In Leipzig sind es dann eben die fast zehn Meter hohen gigantischen Ritterfiguren in der Krypta des Völkerschlachtdenkmals.
Meine Ängste dort hatten eher mit Schwindel und Höhenangst zu tun. Das flaue Gefühl kam aber nicht nur von dorther. Es hatte mit Ohnmacht, Fassungslosigkeit zu tun. Diese Schlacht ist für mich nicht weit, weit weg. Geschichte zu erinnern ist so unerhört wichtig, aber nicht als Fakten- und Zahlensammelsurium. Geschichte muss aus und in der Gegenwart gedacht werden – und auch erlebt. Dann würde der graue Koloss vielleicht seine Geschichte uns immer lauter entgegenrufen…aufrütteln.
Das Kind fragt „Warum?“. Warum so ein Krieg, und will nicht glauben, dass einst Amputationen ohne Betäubung stattfanden. „Wirklich?“
Lapidar meine Antwort: „Es ging um Macht.“ Und ein verzweifeltes Schulterzucken.
Ich weiß keine Antwort…
Das Kind genießt inzwischen sein Eis – zurück in seiner heilen Welt.

