Nee, es geht nicht ums liebe Geld. Es geht um Lebenssichten.
Ich kann locker bilanzieren, was das Leben mir seit langem und eben gerade jetzt verweigert. Negativ-Bilanz, das muß auch mal sein. Schon um herauszufinden, ob ich es denn wirklich brauche.
Aber es geht auch anders. Ich kann auch in der unerwünschtesten, scheußlichsten Situation schauen, was der Gewinn dabei ist. Den gibt es immer. Ja, wirklich. Ich stehe am Abgrund, an einem sehr persönlichen oder einem, den ich mit anderen teile. Taugt dann die Bitte, schnell wieder in vertraute gemütliche Fahrwasser einzutauchen. Ich glaube nicht. Denn in solchen Momenten steckt eine riesige Chance, sich menschlich weiter zu entwickeln und neue Fähigkeiten zu erwerben. Also, Potential genau in solchen Situationen dazu zu gewinnen.
In jeder Biographie gibt es solche Ereignisse, die die meisten von uns lieber in der Versenkung verschwinden lassen möchten. Aus Scham oder weil allein das Hinschauen schon weh tut. Wenn ich es nun aber doch tue, ganz bewusst und mit der Frage ‚Habe ich dabei etwas für mich Wichtiges gelernt?‘, dann könnte möglicherweise Licht in das Dunkel kommen. Oder ich merke, oh ja, da habe ich ja immer noch etwas zu tun.
Da es im Leben ja nicht ums Perfektsein und auch nicht um puren Genuss geht, könnte ich mich ja beim nächsten Mal mit einem ‚Oh nein, bloß nicht das!‘ sogar ein wenig freuen. Endlich kann ich mal wieder Grenzen abtasten, ausreizen, überschreiten. Meine höchstpersönlichen Grenzen. Mindestens werde ich um eine Erfahrung reicher. Gewinn pur.
Ich glaube, wir machen im Moment mit Corona alle solche Erfahrungen. Und ich glaube auch, dass das sogar gut ist. Weil zum Beispiel: Mehr denn je wird das Klima-Dilemma endlich wahrgenommen, wird unser luxuriöser Lebensstil hinterfragt (Ich habe nichts gegen Luxus und es sich gut gehen lassen), geraten Selbstverständlichkeiten wie Schule und was weiß ich ins Wackeln.
Die Übung, aus dem was ist und was ich habe, das beste zu machen hat für mich überhaupt nichts mit Verzicht und erzwungener Genügsamkeit zu tun. Für mich sind es Herausforderungen an meine Kreativität und Beweglichkeit. Ehrlich, genau das macht mir Spaß…und macht mich reicher. Ich will auf keinen Fall der Armut und der Bedürfnislosigkeit das Wort reden. Im Gegenteil. Aber ich möchte mich eher mit der Kreativität und Selbstverantwortung verbünden. Ich finde, dass diese verrückte Zeit uns an Schätze heranführt, die wir, davor stehend, nur noch ausbuddeln müssen.
Zum Beispiel: alle Facetten was Schule ist und sein könnte nach allen Richtungen neu durchdenken. Oder mit mir selbst ins Gespräch über Soll und Haben kommen: Wieviel an Menschlichkeit kann ich, wo muss ich intensiver üben. Wir haben jetzt mehr Zeit denn je, den zwölf Tugenden* bei uns höchstpersönlich auf den Zahn zu fühlen. Hoffentlich gewinnorientiert.


*Heute mal alle 12 Tugenden ganz kurz und im Zusammenhang
(Die Sprachdiktion orientiert sich am mittelalterlichen Sprachgebrauch)
1. Starkmut durch Zucht:
Gemeint ist ein ICH-geführter Mut anstelle von Übermut/Leichtsinn und Tollkühnheit. Das setzt eine bewusste Entscheidung voraus.
2. Reinheit:
Wir würden heute von Wahrhaftigkeit sprechen. Das verlangt viel Reflexion und inneren Mut.
3. Milde:
Gemeint ist Güte. Vom Wesen her gütig sein und gütig, milde handeln, in der Welt agieren.
4. Treue:
Sie ist uns nicht selbstverständlich gegeben. Wenn wir an den Kleinen Prinzen denken – „Womit ich mich einmal verbunden habe…“ – dort sind wir auf dem richtigen Pfad
5. Das rechte Maß:
Es ist immer gefragt, muss sich mit fast allen Tugenden verbinden. Es geht darum, sich vor Extremen jeder Art zu hüten.
6. Sorge:
Heute macht man sich oft Sorgen um, sorgt sich weil…
Hier ist aber gemeint, das ich für das Tier, die Pflanze, den Menschen sorgen werde mit dem ich mich einmal verbunden habe. Mit mir ist zu „rechnen“ im besten Sinne. Also Aktivität ist gefragt.
7. Scham:
Scham hat hier nichts mit „vor Scham in der Erde versinken“ zu tun. Mit Scham ist konstruktive, aufbauende Selbstkritik gemeint. Wir machen alle Fehler und müssen sie machen, um zu lernen. Keiner hat das Recht, mich in die Ecke zu stellen. Auch ich mich selbst nicht.
8. Bescheidenheit:
Nicht: Ich bin ja so großzügig und will (fast) nichts für mich.
Sondern: Ich nehme mein Schicksal an und gehe meinen Weg mit dem was mir beschieden ist. Vom Leben, von den Göttern, von…
9. Stetigkeit:
Sie ist eng verbunden mit Treue und Sorge und meint Ausdauer. Auch: mein Kreuz tagtäglich auf mich nehmen in den Mühen des Alltags. Also treu bleiben, mich kümmern, dabei durchhalten…
Ich finde es bemerkenswert, dass sie erst die 9. von Zwölfen ist.
10. Demut:
Dazu gehört das christliche Bild der Fusswaschung. Und meint die unbedingte Achtung vor allem Sein, Dasein, vor jedem Mitmenschen, auch dann wenn es vielleicht schwer fällt. Das Sich-Beugen vor dem Göttlichen ist mehr als das vor einem Gott.
11. Geduld:
Gemeint ist aushalten und auch verharrend, wenn es nicht anders geht, durchzuhalten, etwas durchtragen . Ich muss nicht unbedingt duldsam sein, aber ich sollte auch Stillstand aushalten können, alles, wenn nötig aushalten können. Zu erkennen, wenn ich es nicht zwingen kann. Und dabei in meiner Mitte bleiben. Diese vermeintliche Ruhe verlangt hohe geistige Aktivität.
12. Minne:
In diesem schönen Wort steckt die Agape. Die selbstlose, bedingungslose Liebe, die nichts für sich will.